Über das Schreien

Predigttext: Markus 9,17-27 am 17. Sonntag nach Trinitatis
Über das Schreien
Ist Euch das aufgefallen? In dieser Geschichte wird ganz schön viel geschrien. Der Vater des kranken Kindes schreit. Der böse Geist schreit. Jesus schreit nicht in dieser Geschichte, aber viel hat wohl nicht gefehlt. Er ist auf jeden Fall genervt.
Mit dem Schreien ist das so eine Sache. Manchmal ist es die einzige Option.
Für Babys zum Beispiel. Babys schreien, wenn sie Schmerzen haben oder Hunger oder eine volle Windel. Wenn sie Hilfe brauchen. Schreien ist ihr einziges Mittel, auf sich aufmerksam zu machen.
Oder denkt an den Iran. Vor einem Jahr begannen Menschen hier ihren Proteste gegen das Regime herauszuschreien. „Frau, Leben, Freiheit“ haben sie gerufen. Hunderte, tausende Menschen auf den Straßen und Plätzen von Teheran und vielen anderen anderen Städten.
Mit dem Schreien ist das so eine Sache. Manchmal ist es deine einzige Option.
Aber auch das stimmt: Nicht jedes Geschrei dient einem guten Zweck oder macht auf ein echtes Bedürfnis aufmerksam.
In einer Zeitung hab ich gelesen, wie die bayrische Spitzenkandidatin der Grünen in Bierzelten niedergeschrien wird, noch ehe sie selber etwas gesagt hat. Solche Schreihälse machen mich wütend.
Und wenn ich Eltern erlebe, die ihre Kinder auf offener Straße oder im Supermarkt anschreien, macht mich das traurig. Mit tun die Kinder leid, die angeschrien werden. Mir tun aber auch die Eltern leid. Eltern, die schreien, haben die Nerven verloren oder die Kontrolle oder beides. Passiert mir übrigens auch immer wieder. Erst neulich bei Kilometer 435 auf unserer Urlaubs-Fahrt nach Italien.
Der Vater
Er hat es ja zuerst ohne Schreien versucht, der Vater in unserer Geschichte aus dem Markusevangelium. Dafür bewundere ich ihn. Vor allem, wenn ich mich in seine Situation versetze. Das Kind dieses Mannes ist krank, schon lange, vielleicht seit seinem dritten Lebensjahr. Vielleicht sogar schon länger …
Ich stelle mir vor, was diese Krankheit mit dem Mann gemacht hat. Mit ihm, mit seiner Frau. Die ständige Sorge. Die ständige Verantwortung. Das Kind kann nicht ohne Aufsicht sein, niemals. Jederzeit kann ein Anfall kommen. Jederzeit kann es lebensbedrohlich werden.
Und natürlich hältst du, wenn Du so ein krankes Kind hast, permanent Ausschau nach jemandem, der euch helfen kann. Fragst Verwandte und Bekannte. Kennt ihr nicht noch jemanden? Einen Arzt? Jemanden mit einer neuen Methode? Einen Exorzisten? Denn dass ein böser Geist für die Anfälle verantwortlich sein muss, ist allen klar. Und natürlich kennt immer jemand einen. Also machst Du dich auf. Das Kind immer dabei. Die Anfälle immer dabei. Und immer das Warten, bis der Arzt Zeit für dich hat. Und am Ende stellt sich heraus, dass alles umsonst war.
Der Vater hat es ja erst ohne Schreien versucht. Hat sich an die Jünger gewandt – so stelle ich es mir vor. Hat zugeschaut, was sie versucht haben. Erst der eine, dann der andere. „Lass mich nochmal.“ Wie sie sich beraten haben. Nervös geworden sind, zu streiten anfingen. Das hat er sich angeschaut und sich zusammengerissen und erst nichts gesagt. Auch dann nicht als die Jünger zugegeben mussten, was offensichtlich war: dass sie den bösen Geist nicht in den Griff bekommen. Trotz aller Bemühungen. Aber nun ist Jesus selbst da. Der Vater wittert seine Chance. Die letzte Chance für heute. Vielleicht sogar für immer.
Er nennt Jesus sein Anliegen und Jesus stellt Fragen: Seit wann? Und wie oft? Und das ist ja eigentlich gut, wenn jemand uns fragt und nicht schon alles zu wissen meint. Aber der Vater hat diese Fragen schon so oft gehört und so oft beantwortet und er hat schon so oft gehofft. Er ist erschöpft vom Bitten, Hoffen und Enttäuschtwerden. Deswegen ist sein Ton jetzt schroff: „Kannst Du was?“ fragt er Jesus sinngemäß. „Kannst wenigstens Du mit diesem Geist fertig werden, wo doch die Deinen so jämmerlich versagt haben?“
Irre ich mich oder reagiert Jesus gereizt? Ich könnte es ihm nicht verdenken. Er antwortet dem Mann jedenfalls: „Du zweifelst an meinem Können? Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“
Diese Antwort finde ich spannend. Sie könnte der Beginn einer interessanten theologischen Diskussion werden. Einer Diskussion, bei der ich gern dabei wäre. Ich hätte viel Fragen an Jesus. Ich würde fragen. Von wessen Glauben redest Du? Vom Glaubens des Vaters? Oder redest von Dir? Von Deinem Glauben, Jesus, der so groß und tief ist, dass er alles vermag. Aber das kannst Du doch nicht im Ernst von uns verlangen. Wie sollen wir das hinbekommen?
So hätte ich Jesus gefragt und dann gerne gehört, was er antwortet und sicher noch mal nachgefragt und diskutiert ….
Dem Vater des kranken Kindes ist nicht nach Diskutieren. Er will nur dass seinem Kind geholfen wird. JETZT. Und deswegen ist das der Moment, in dem er die Nerven verliert. Er schreit Jesus an. So steht es in der Bibel. Der Vater schreit Jesus an. Er schreit: "Ich glaube, hilf meinem Unglauben."
Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Ich kenne so etwas. Ihr vielleicht auch. Wenn zwei Gefühle in einem streiten. Wenn Gottvertrauen und Glaube mit der Angst kämpft, mit der Angst vor der Zukunft. Ich glaube zum Beispiel fest daran, dass Empathie mit den Schwächsten einer Gesellschaft, – mit Flüchtlingen etwa – dass Empathie mit diesen Menschen ein Grundpfeiler unseres Zusammenlebens ist. Ich glaube daran, dass sich diese Einsicht langfristig durchsetzen wird. Und ich bin sicher, dass wir Christen viel dazu beitragen können und es auch tun. Und gleichzeitig sehe ich, wie genau diese Empathie gerade an Bedeutung verliert.
Wie rechte Schreihälse immer lauter werden und die leisen Stimmen übertönen. Weltweit, aber auch hier in Deutschland. Warum versagen wir gerade und bekommen das nicht in den Griff? Oder bekommen wir es noch in den Griff? Vertrauen und Angst im Widerstreit.
Zurück zu unserer Geschichte, in der der Vater Jesus gerade anschreit. Er hat die Nerven verloren und die Kontrolle. Aber das ist in diesem Fall gut. Denn für ihn und sein Kind geht es um Leben und Tod. Und Jesus versteht das und handelt.
Wisst ihr, ich bewundere Jesus für die Kraft seiner Worte. Ich bin dankbar für seine Gleichnisse, für die Bergpredigt, für die tiefsinnigen Gespräche mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Aber noch dankbarer bin ich dafür, dass Jesus im Zweifel das Predigen sein lässt und das Diskutieren auch. Dass er hinhört und versteht, dass dieser Mann ihn aus schierer Not anschreit.
Ein Schreihalt verlässt die Bühne
Jesus hört hin, versteht und hilft. Und das führt hier in unserer Geschichte dazu, dass ein Schreihals gehen muss. Der böse Geist, der von dem Jungen Besitz ergriffen hat. Dieser Geist schreit nicht im Dienst einer guten Sache. Er will zerstören. Er bringt den Jungen in Gefahr.
Das kommt mir vertraut vor - Schreihälse, die von anderen Besitz ergreifen und unsere Gesellschaft in Gefahr bringen. Sie hocken in Bierzelten und brüllen andere Meinungen nieder. Und wenn wir sie gewähren lassen, wird es nicht beim Brüllen bleiben. Es bleibt schon jetzt nicht mehr dabei. Sie sitzen ja schon in Rathäusern und Landtagen und haben politische Macht.
Jesus bedroht den bösen Geist und nennt ihn beim Namen und da muss der Schreihals klein begeben und verschwindet. Das Kind ist wieder frei. Sein Vater atmet auf und alle anderen, die dabei sind, auch. Und ich denke: Dieses Mal ist es gut gegangen.
Und dann geh ich zu den Jüngern und stell mich zu ihnen, zu denen die gescheitert sind an diesem bösen Geist, aber trotzdem bei Jesus bleiben, bei ihm bleiben dürfen. Dort stehe ich mit meiner Angst vor der Zukunft, dem Wissen um meine begrenzte Kraft und mit grenzenlosem Vertrauen.