Listen

Jack Baxter auf unsplash

Paulus schreibt Listen. Er geht auf und ab. Überlegt. Wenn ihm etwas einfällt, setzt er sich hin, notiert ein Stichwort, dann noch eins. Er notiert das Wort „Aufruhr“. Er notiert „Geduld“, dann „Liebe“, etwas später „Angst“.
Paulus ordnet die Worte. Bringt sie in eine Reihenfolge. Korrigiert sich, stellt etwas um. Irgendwann ist er zufrieden. Paulus schreibt Listen.

Ich schreib auch manchmal Listen, v.a. dann wenn ich etwas nicht vergessen will.
Ich schreibe Listen, auf denen steht, was ich besorgen muss: Brötchen, Milch und Petersilie.
Listen auf denen steht, was ich machen muss, für die Arbeit aber auch privat: diese und jene Rechnung bezahlen, beim Zahnarzt anrufen, das Seminar kommenden Dienstag vorbereiten.

Manche Listen schreib ich für mich. Manche Listen schreib ich für andere, wie meine Wunschliste bei Amazon oder auch mal eine Einkaufsliste für meinen Sohn.
Ich schreib meine Listen mit Bleistift oder Kuli oder tippe sie ins Handy.
Ich finde: Listen haben etwas Beruhigendes.
Ich weiß es gibt da irgendwo einen Zettel in meiner Hosentasche, auf den ich immer wieder zurückgreifen kann.
Ich weiß: Es gibt da diese Datei auf meinem Smartphone, in der ich das Wichtigste festgehalten habe.
Und selbst wenn gerade alles drunter und drüber geht. Wenn mir der Kopf schwirrt oder die Nerven blank liegen, dann ist da immer noch irgendwo diese Liste, an die ich mich halten kann.
Listen haben etwas Beruhigendes.
Im Moment kann ich Beruhigung gut gebrauchen.

Paulus schreibt Listen. Mehrere.
Er schreibt nicht mit Kugelschreiber oder Bleistift und natürlich auch nicht in ein Smartphone. Er schreibt seine Listen auf Papyrus. Mit rußhaltiger Tinte und einem angespitzten Schilfrohr.

Worum es in den Listen des Paulus geht? Es geht wie bei meinen Listen darum, Wichtiges festzuhalten. Aber das, was Paulus festhält, ist wichtiger als Petersilie oder dass bis übermorgen eine Rechnung bezahlt werden muss.
Paulus schreibt Listen, die seine Erfahrungen festhalten, seine Erfahrungen als Christ. Er schreibt diese Listen für sich und für andere. Die anderen  - das sind die Christen und Christinnen in Korinth.

Zuerst listet Paulus auf, was er durchgemacht hat in den letzten Jahren. Auf seiner Liste stehen: Schläge, Gefängnis, Hunger, Bedrängnis, Not und Angst. Das sind  nur Stichworte. Aber für Paulus steht hinter jedem Wort etwas, das er selbst erlebt hat. Jedes der Worte ruft Erinnerungen wach und Gefühle. Er schreibt „Gefängnis“ und sieht wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufstellen. Er schreibt Angst und spürt wie sein Herz eng wird.

Als ich mir diese erste Liste des Paulus vor ein paar Wochen schon einmal angeschaut hab, bin ich schnell darüber hinweggegangen. Das geht mir jetzt anders. Im Moment weiß ich genau, wie sich Angst anfühlt. Und ich sehe wie Not und Bedrängnis mit den Flüchtenden kommen, die in Zügen und Bussen bei uns eintreffen. Und ja: Solche Erfahrungen müssen festgehalten werden. Sie sind wichtig.

Alle, die gerade debattieren oder Entscheidungen treffen über Waffenlieferungen, über Strategien und Zugeständnisse an Putin sollen immer wieder auf sol-che Listen schauen. Listen, die die Erfahrungen festhalten, die Menschen im Krieg machen.

Paulus schreibt Listen. Eine erste mit schmerzhaften, bedrückenden Erfahrungen. Dann schreibt er eine zweite Liste. Sie ist genau das Gegenteil der ersten. Es ist eine Geschenkeliste. Aber es geht nicht um Geschenke, die Paulus gern hätte, sondern um Geschenke, die er schon bekommen hat. Von Gott bekommen hat. Paulus taucht das angespitzte Schilfrohr in die rußhaltige Tinte und schreibt: „Geduld“, „Kraft“, „Erkenntnis“ und „Selbstlosigkeit“. Und ich bin so froh, dass es auch diese zweite Liste gibt bei Paulus. Not, Angst und Hunger quälen Menschen und machen schnell egoistisch. Aber das ist kein Automatismus. Immer wieder besiegen Menschen ihre Angst. Sie gehen in Russland auf die Straße, obwohl sie wissen, dass sie dafür verhaftet werden. Sie rücken in dem überfüllten Bus, der sie über die Grenze bringen soll, so eng wie es nur irgendwie geht zusammen, damit dieses eine Kind noch Platz hat und eine Familie beieinander bleiben kann. Auch das ist wichtig. Auch das gehört aufbewahrt, damit wir uns daran erinnern und daran festhalten. Gerade dann wenn die Nerven blank liegen.

Und das bringt mich zur dritten Liste, die Paulus schreibt mit rußhaltiger Tinte. Diese dritte Liste ist be-sonders. Nicht mehr so eindeutig. Es ist als ob Paulus seine beiden ersten Listen nun ineinander schiebt. Die mit den schlimmen Erfahrungen und die mit den Geschenken.

Er schreibt: So ist unser Leben als Christen, als solche, die Christus nachfolgen: Wir sind die Sterbenden und siehe wir leben.
Wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet.
Wir sind die Traurigen, aber allezeit fröhlich.
Wir sind die Armen, die doch viele reich machen.
Wir sind solche, die nichts haben und doch haben wir alles.

Und doch. Und siehe. Aber. Das sind die Worte, mit denen sich am besten ausdrücken lässt, wie wir als Christen unterwegs sind. Es ist eben immer beides in uns. Ohnmacht, aber auch Kraft
Kummer, aber auch Trost,
Angst, aber auch Hoffnung.
Passionsdunkel, aber auch Osterlicht. Es ist immer gleichzeitig da.

Paulus schreibt Listen. Listen haben etwas Beruhigendes finde ich. Vor allem, wenn einem der Kopf schwirrt und die Nerven blank liegen.

Ich nehme einen Zettel und einen Stift. Ich schreibe untereinander: Windeln, Duschgel, Zahnbürsten, Binden, Shampoo, Babycreme.
Lauter Dinge, die ich kaufen und abgeben will für die Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen.

Und dann schreib ich noch, was jetzt zu tun ist:
Hoffen
Beten
Suchen.
Jagen.
Den Frieden suchen und ihm nachjagen mit allem, was wir haben.

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