Von den Sternen und den Menschen (Zum Lied: Weißt du, wieviel Sternlein stehen)

Wilhelm ist ein fröhlicher und aufgeweckter Junge von 14 Jahren. In der Schule kommt er gut mit. Lesen, Rechnen, Religion. Alles fällt ihm leicht. Manchmal sogar zu leicht. Wenn die anderen noch rechnen oder mühsam buchstabieren, langweilt sich Wilhelm und fängt an, Quatsch zu machen. Wehe, wenn der Lehrer das mitbekommt. Dann setzt es was. Schläge sind in Wilhelms Schule gang und gäbe.
Nach der Schule geht Wilhelm nach Hause. Er wohnt bei seinem älteren Bruder Karl. Warum er bei seinem Bruder wohnt? Wilhelm hat keine Eltern mehr. Sie sind beide tot. An die Mutter kann er sich gar nicht mehr erinnern. Aber an seinen Vater, an den erinnert er sich noch gut. Der ist gestorben als Wilhelm 13 war.
Nach dem Tod des Vaters ist Wilhelm zu seinem Bruder Karl gezogen. Bei Karl, seiner Frau und ihren Kindern geht es Wilhelm gut. Nachmittags spielt er meist mit seinen kleinen Neffen. Sie jagen die Enten kreuz und quer über die Wiese und dann spielen sie Baumfangen. Die Neffen klettern auf Bäume und Wilhelm versucht sie mit seinen langen Armen herunter zu pflücken. Das ist ein Spaß.
Nur manchmal wird Wilhelm traurig. Das ist meistens abends, wenn seine Neffen ins Bett gegangen sind und Karl sich an seinen Schreibtisch zurückzieht. Dann fühlt sich Wilhelm allein. Oft setzt er sich dann auf die Schwelle vor‘s Haus. Er denkt an seinen Vater zurück und betet, dass es ihm gut geht, da wo er jetzt ist.
Und Wilhelm findet Trost beim Anblick der vielen Sterne, die am nächtlichen Himmel funkeln. Je dunkler es wird, desto mehr Sterne kann man sehen und Wilhelm versucht, jedem Stern einen Menschen zuzuordnen, den er kennt. Zuerst sucht er Sterne für die Neffen aus, dann einen für Karl und seine Frau, dann für alle Klassenkameraden. Dem freundlichen Schuster sucht Wilhelm einen Stern aus und der Bäckersfrau. Irgendwann fällt ihm niemand mehr ein und da entschließt er sich, auch den Verstorbenen Sterne zu geben. Einen schönen hellen Stern wählt er für seine Mutter. Einen anderen dicht daneben macht er zum Stern seines Vaters. Und da fühlt sich Wilhelm gar nicht mehr so allein. Es sind ja immer alle bei ihm. Sogar seine Eltern schauen vom Himmel auf ihn herab.
Viele Jahre sind vergangen. Wilhelm ist nun erwachsen. Und er ist Pfarrer geworden. Ein guter Pfarrer, nicht so einer von den strengen, die ihre Konfirmanden anschreien oder ihre Religionsschüler schlagen. „Gott ist großherzig und sanftmütig. Er will nicht, dass wir Menschen einander wehtun.“ Das sagt Wilhelm, wenn ihn jemand fragt, warum er nicht strenger zu den Kindern ist. Die Erwachsenen schütteln dann missbilligend den Kopf, aber die Kinder, die lieben Wilhelm. Immer sind welche um ihn herum. Verwandte und Freunde schicken ihre Söhne und Töchter zu ihm, damit sie eine Weile bei ihm wohnen und etwas von ihm lernen.
Eigene Kinder hat Wilhelm noch nicht. Aber er ist verheiratet. Auguste heißt seine Frau und Wilhelm dankt Gott jeden Tag, dass er sie hat.
Abends sitzen die beiden oft vor ihrem Haus, schauen in den Sternenhimmel. Und dann denken sie sich aus, welcher Stern zu welchem Menschen gehört. Manchmal singt Wilhelm seiner Frau dann auch etwas vor. Liebeslieder.
Wenn die Kinder, die bei Wilhelm zu Gast sind, das hören, kichern sie in ihre Kissen hinein. Liebe. So was Albernes. Aber dann hören sie doch zu. Und das ist das Lied, das Wilhelm am liebsten für seine Frau singt:
So viel Stern am Himmel stehen, an dem blauen Himmelszelt; so viel Schäflein, als da gehen in dem grünen grünen Feld; so viel Vöglein als da fliegen, als da hin und wieder fliegen, so viel mal seist du gegrüßt, so viel mal seist du gegrüßt.
Die Grillen zirpen. Die Sterne funkeln. Auguste schaut ihren Wilhelm sehr verliebt an. Da bläken drei Kinder-stimmen aus dem offenen Fenster im oberen Stockwerk: „So viel mal seist du gegrüßt“. Wilhelm fährt hoch und droht mit der Faust. Aber er meint es nicht so, das wissen die Gastkinder und verkriechen sich lachend in ihre Betten.
Noch einmal sind viele Jahre vergangen. 48 Jahre ist Wilhelm mittlerweile alt. Er ist Superintendent geworden und wohnt in Ichtershausen. Auguste ist tot. 17 Jahre waren sie verheiratet. Kinder haben die beiden keine bekommen.
Aber 5 Jahre nach dem Tod von Auguste hat Wilhelm noch einmal geheiratet. Eine junge Frau namens Luise. Und nun ist Luise schwanger. Wilhelm wird Vater. Das hat er sich schon so lange gewünscht. Wilhelm dankt Gott jeden Tag für Luise und das Kind in ihrem Bauch.
Es ist Samstagabend. Morgen ist Gottesdienst und Wilhelm hat mit der Predigt noch nicht mal angefangen.
Er sitzt lieber mit seiner Frau auf der Bank vor dem Haus und schaut in den Sternenhimmel.
Sie reden nicht. Wilhelm hängt Erinnerungen nach, traurigen und schönen. Irgendwann beginnt er zu summen. Es ist immer noch sein Lieblingslied … so viel Stern am Himmel stehen. Aber er kommt nicht weit. Luise scheucht ihn hoch. „Ab mit dir ins Arbeitszimmer“, sagt sie. „Du musst noch eine Predigt schreiben.“
Oben angekommen setzt sich Wilhelm an seinen Schreibtisch. Er schaut nach, zu welchem Bibeltext er morgen predigen muss. Dann schlägt er die Bibel auf und sucht die Stelle beim Propheten Jesaja. Wilhelm liest:
„Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Der Herr führt das Heer der Sterne vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“
Wilhelm löst die Augen von dem Text, er nimmt das aufgeschlagene Buch in die Hand und tritt an das geöffnete Fenster. Er schaut nach oben und sieht den Sternenhimmel, wie Gott ihn geschaffen hat. Und noch einmal sucht Wilhelm einen Stern für alle seine Lieben aus. Einen Stern für seinen Vater, einen für seine Mutter, für Karl und die Neffen. Für Auguste, Luise und das Kind in ihrem Bauch. Alle sind sie bei ihm. Keiner fehlt. Und das macht ihn dankbar. Und dann liest Wilhelm noch einmal die Stelle bei Jesaja: „Der Herr ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“ Und während Wilhelm liest, hört er von unten seine Frau Luise, die das Lied weitersummt, das er vorhin begonnen hat.
Und da am Fenster, mit der Bibel in der Hand, fällt Wilhelm ein neuer Text ein zur Melodie dieses Liebeslieds.
Es ist ein Lied von den Sternen und von den Menschen.
Ein Lied darüber, dass alles seinen Platz hat und nichts verloren geht und sei es auch noch so klein. Und es ist ein Lied von Gott und seiner großherzigen Liebe, die alles hält und birgt: Jede Mücke, jeden Stern und jedes Menschenkind, auch dich und mich.
(Se non è vero, è ben trovato.)