Mein schönster Totensonntag

Gleich beim Hereinkommen sah ich sie. Einen Jungen mit blauer Wollmütze und ein Mädchen im pinken Kleid. Die beiden saßen zusammen mit ihrer Mutter weit vorn, gleich hinter der Pfarrerin.
Ich war in einem Gottesdienst. Es war Totensonntag, also der Tag, an dem die Namen der Gemeindeglieder vorgelesen werden, die im vergangenen Jahr gestorben sind.
Die beiden Kinder drückten den Altersdurchschnitt der Anwesenden gewaltig. Überhaupt gaben sie diesem Gottesdienst eine besondere Farbe. Denn während wir das erste Lied sangen, stand das Mädchen auf, ging zur Pfarrerin und umarmte sie. Beim zweiten Lied holte der Junge eine Tüte mit Süßigkeiten hervor, drehte sich um und bot sie lächelnd den Leuten hinter ihm an. Kurz vor der Predigt begannen die beiden allen Ernstes Luftballons aufzublasen.
Das Überraschende war: Niemand schimpfte oder schickte die Kinder hinaus. Und warum auch? Es fühlte sich irgendwie richtig an, was die beiden taten. Denn in der Predigt sprach die Pfarrerin von einem heiteren neuen Himmel und einer fröhlichen neuen Erde. Und wegen des Jungens mit der blauen Mütze und dem Mädchen im pinken Kleid wusste ich genau, was die Pfarrerin meinte: Einen Ort, an dem Menschen teilen und andere umarmen, wenn ihnen danach ist. Und ich dachte: Wenn die Verstorbenen jetzt an so einem Ort sind, dann geht es ihnen wirklich gut.
Nach der Predigt, sangen wir ein Himmelslied. Und dabei standen die Kinder auf, traten in den Mittelgang und drehten sich mit ausgebreiteten Armen. Die Heiligenfiguren, die das Geschehen von den Wänden herab beobachten, schauten ernst. Ich glaube, das Ganze war ihnen dann doch etwas zu wild. Aber Jesus auf dem Gemälde über dem Altar lächelte – ich konnte es ganz genau erkennen.
Irgendwann verließen die Kinder dann doch den Gottesdienst. Nicht lange vor dem Segen war das. Als ich aus der Kirche kam, lagen die bunten Hüllen ihrer Luftballons vor der Tür. Die Kinder waren fort. Ich sah sie noch in der Ferne rennen. Leicht und frei.