Mädchen mit dunklen Augen und einem Kind im Bauch

Manchmal stelle ich mir vor, dass die Figuren der Weihnachtsgeschichte aus den Seiten der Bibel heraus klettern. Dass sie in unsere Zeit springen und dann eine Weile unter uns leben.
Die schwangere Maria zum Beispiel. Sie ist noch minderjährig. 14 oder 15 Jahre alt. Wo könnte ich sie finden im Hier und Jetzt?
Vielleicht ist sie ja in einer WG für minderjährige Schwangere untergekommen. Solche WGs gibt es. Ich hab erst neulich etwas darüber gelesen. Vielleicht wohnt Maria dort zusammen mit einem anderen Mädchen. Mit Jasmin zum Beispiel, die genauso dunkle Augen hat wie Maria und auch schwanger ist.
Jasmin und Maria verstehen sich gut, so stelle ich mir das vor. Sie kochen zusammen, schauen abends gemeinsam Youtube.
Tagsüber macht Jasmin eine Ausbildung. Jedenfalls noch. Wie es weitergeht, wenn das Kind da ist, weiß sie nicht. Manchmal bekommt sie es deswegen mit der Angst.
Jasmin und Maria tauschen ihre Umstandshosen, schicken sich lustige Videos und sie reden miteinander. Jasmin erzählt fast jeden Tag von den dummen Sprüchen ihres Ausbilders. Maria nickt und denkt daran, was sie zuhause zu hören bekommen hat als sich ihr Bauch unter dem Kleid abzuzeichnen begann.
Irgendwann wenn es draußen schon dunkel ist, zünden die beiden Kerzen an. Und dann erzählt Maria mit leiser Stimme von dem Engel, der sie damals in Nazareth besucht hat, der gesagt hat, dass Maria gesegnet ist, dass sie bald ein Kind bekommt und dass es ein ganz besonderes Kind sein wird. Jasmin nickt. Mit Engeln kennt sie sich aus. Sie hat sogar einen als Tattoo auf ihrer Schulter. Und dass auch ihr Kind etwas Besonderes sein wird so wie das Kind von Maria, das glaubt sie von ganzem Herzen.
Irgendwann fragt Jasmin Maria: „Hattest Du keine Angst als der Engel dich besucht hat?“ „Am Anfang schon“, antwortet Maria. „Aber bevor er fortgegangen ist, hat er mich umarmt und dann hat er die Angst irgendwie mitgenommen.“ Und da verschwindet auch die Angst aus Jasmins Augen und sie streichelt ihren Bauch und denkt: Das werde ich schon irgendwie hinbekommen mit der Ausbildung und dem Kind.
Lange sitzen sie noch beieinander: Mädchen mit dunklen Augen, mit einem Kind im Bauch und einer ungewissen Zukunft. Aber gerade sie sind guter Hoffnung. Gerade sie sind gesegnet und voll der Gnade.