Hinauf nach Jerusalem

Foto von Lisa Forkner auf Unsplash

Predigttext: Lukas 18,31–33 und nachdem das Wochenlied "Wir gehn hinauf nach Jerusalem" (EG.E 3) gesungen wurde

Wisst ihr: Ich war noch nie in Jerusalem. Ich kenne nur Fotos. Auf diesen Fotos sehe ich Mauern und Häuser aus hellen Steinen. Ich sehe malerische Gassen, Kirchen und natürlich die goldene Kuppel des Felsendoms, die fast immer im Sonnenlicht glänzt. Und fast immer ist der Himmel blau auf diesen Fotos. Jerusalem - ein Sehnsuchtsort. So sieht es auf den Bildern aus. So beschreiben es viele Menschen, schon in der Bibel.
Ich war noch nie in Jerusalem. Vielleicht reise ich irgendwann einmal hin. Keine Ahnung, wann das sein wird. Im Moment hab ich viel zu viel Angst. Angst vor Krieg und Luftalarm und Attentaten.
Das Auswärtige Amt sieht das auch so. Es rät von Reisen ab, nicht nur von Reisen nach Jerusalem natürlich, sondern auch von Reisen in die palästinensischen Gebiete. Allerdings sind Touristen dort sowieso selten anzutreffen, vermute ich. Nicht mal in den sog. besseren Zeiten.


Wie mag es Jesus mit Jerusalem gegangen sein? Wie seinen Jüngern?
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem.“ So sagt es Jesus zu seinen Freunden, da sind sie noch ein gutes Stück entfernt. Da sind sie erst kurz von Jericho und Jericho liegt nicht nur sehr tief im Vergleich zu Jerusalem. Es liegt auch 60 Kilometer weiter nordöstlich.
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem.“ sagt Jesus zu seinen Jüngern und ich höre das zunächst wie eine Verheißung. „Hinaufgehen.“ Das klingt gut. Das klingt nach Helle und Weite und Luft. Nach einer schönen Aussicht. Nach einem Ort wie auf den Fotos.
Vielleicht haben die Jünger Jesu Worte auch so gehört wie ich. Sehnsüchtig. Vielleicht haben sie gedacht: Ja, da wollen wir hin. Nach Jerusalem, in die Stadt, von der man sagt, sie sei die allerschönste. Dort können wir uns ausruhen nach der langen anstrengenden Reise.
Falls sie so träumen, die Jünger, macht Jesus ihnen einen Strich durch die Träumerei. Von Verhaftung spricht er, von Beschimpfung, von Misshandlung und Tod. Von seinem Tod in Jerusalem.

Jesus träumt nicht. Er sieht deutlich, was ihm bevorsteht, was ihn in Jerusalem erwartet. Seine Jünger dagegen kapieren es nicht, so steht es in der Bibel.  Vielleicht glauben sie es auch einfach nicht oder wollen es nicht wahrhaben. Und das verstehe ich. Es ist ja auch unbegreiflich, warum so etwas Schlimmes passieren sollte im schönen Jerusalem. Aber das fragt man sich ja immer. Warum gerade hier? Warum gerade in meiner Familie? Warum gerade bei meinen Glaubensgeschwistern? Warum in Afghanistan? In der Ukraine? Im Heiligen Land? Das kann doch alles nicht wahr sein.
Die Jünger verstehen Jesus nicht oder glauben ihm nicht oder wollen es einfach nicht wahrhaben. Und doch gehen sie weiter. Sie gehen mit Jesus weiter.
Und wir? Wie steht es mit uns? Mit uns und den Träumereien? Mit uns und dem Leid? Mit uns und dem Nicht-Verstehen-Können? Mit uns und der Nachfolge? Bleiben wir mit Jesus auf dem Weg?

Eben haben wir das Lied gesungen: „Wir gehen hinauf nach Jerusalem“ Und während wir es gesungen haben, sind wir fast unmerklich Teil dieser Jüngerschar geworden, die mit Jesus unterwegs ist, hinauf nach Jerusalem. In dem „Wir“ dieses Liedes sind wir inbegriffen. Wir hier im Dom. Jeder, der mitgesungen hat. Von Jericho aus sind wir hinauf nach Jerusalem gestiegen, zusammen mit Jesus und seinen Jüngern. Haben die Nacht mit ihm im Garten Gethsemane verbracht und ihn weinen gesehen. Sind bei seiner Verhaftung dabei gewesen und haben gestaunt, wie ruhig er blieb. Folgten ihm bis in den Vorhof des Hohepriesters. Standen am nächsten Tag unter dem Kreuz.

Waren dabei? Folgten? Standen? Staunten? Weinten? Nein, das ist falsch. Grammatisch ist das falsch. Das ist kein Lied im Präteritum. Es ist ein Lied im Präsens. Es spielt jetzt.
Das Lied macht etwas, das ich auch von Bildern kenne, die die Kreuzigung Jesu zeigen. Dort findet man manchmal Menschen, die da eigentlich nicht hingehören, ursprünglich nicht  dabei gewesen sein können. Spätergeborene. Man erkennt sie an ihrer Kleidung, an den Uniformen und Frisuren. Hin und wieder hat sich der Maler oder die Malerin auch selbst mit in die Szene hineingemalt.


Mit Jesus hinaufgehen nach Jerusalem. Das geschieht jetzt. Weil wir jedes Jahr die Passionszeit begehen und immer wieder Jesu Leidensgeschichte durchschreiten.
Mit Jesus hinaufgehen nach Jerusalem. Das geschieht jetzt. Weil immer noch so viel gelitten und gestorben wird im Nahen Osten, in Afghanistan, in der Ukraine.
Mit Jesus hinaufgehen nach Jerusalem. Das geschieht jetzt. Weil – wie Dorothee Sölle gesagt hat – Christus auch heute noch leidet und stirbt, jedes Mal, wenn Unschuldige misshandelt und getötet werden. Egal auf welcher Seite der Grenze.
Mit Jesus hinaufgehen nach Jerusalem. Das geschieht jetzt und wenn ich ausreiße, wenn ich abhaue, verpasse ich etwas Wichtiges: Die Chance, zu verstehen, wer und wie Gott ist. Ein Gott, der sich ausliefert. Der sich uns ausliefert mit allen Konsequenzen.
Mit Jesus hinaufgehen nach Jerusalem. Das geschieht jetzt und wenn ich mich davonstehle, wenn ich weglaufe, dann verpasse ich das Wichtigste. Dann verpasse ich die Erfahrung, dass es keinen Weg um das Leiden herum gibt. Aber einen Weg durch das Leiden hindurch.

Diesen Weg geht Jesus. Dieser Weg ist Jesus.
Und ich gehe hinterher. Tastend, zögerlich und voller Angst. Aber ich gehe.

 

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