Zwei Geschichten

Foto von Richard Huber auf Wikimedia Commons

„Wissen Sie“, sagt Waltraud Märker in ihrer weihnachtlich geschmückten Stube, während sie mir Kaffee nachschenkt und der Pyramide einen Schubs gibt, um sie wieder in Schwung zu bringen, „wissen Sie, ich kann mein Leben als zwei unterschiedliche Geschichten erzählen. In der einen hab ich mit elf Jahren Polio bekommen und musste ins Krankenhaus. '45  war das. Also sind meine Mutter und mein Bruder ohne mich aus unserem schlesischen Dorf geflohen. Ich lag bis April im Krankenhaus und kam dann zu einer Tante, die man glücklicherweise ausfindig machen konnte. Erst zwei Jahre später hab ich meine Mutter und meinen Bruder wiedergefunden.
Ich war schlecht in der Schule und hab sie ohne Abschluss verlassen. Meinen Mann Rudi hab ich beim Tanzen in der Konsumgaststätte kennengelernt. Wissen Sie überhaupt was das ist, Frau Pfarrer?“
Ich nicke vage, nehme einen Schluck aus meiner Kaffeetasse und registriere, dass sich die Pyramide dank des beherzten Anschubs nun beharrlich und entschlossen dreht, so wie es sein soll. Frau Märker erzählt weiter: „Ich war dann auch gleich schwanger von Rudi, mit gerade mal 17 Jahren und wir haben schnell geheiratet. Dann kam das zweite Kind – die Monika, die kennen Sie ja. Unsere Ehe war nicht gerade glücklich. Der Rudi war auf Montage und fast nie da. Na und er hatte auch andere Frauen, das hab ich schnell gemerkt. Irgendwann hab ich ihn verlassen und meine Kinder allein großgezogen. Später, das war schon nach der Wende, ist der Rudi krank geworden und da hab ich ihn wieder aufgenommen und gepflegt bis zum Schluss.“ Sie schaut aus dem Fenster in den dunklen Winternachmittag hinaus und schweigt.
„Und die andere Geschichte, Frau Märker“ frage ich. „Was ist die zweite Version ihrer Geschichte?“ „In der anderen Geschichte hat mir die Polio den grauenhaften Treck erspart, von dem mir mein Bruder und meine Mutter erzählt haben, erst viele Jahre später. Meine Tante, bei der ich die zwei Jahre nach dem Krieg gelebt hab, hat mir Kochen und Backen beigebracht, obwohl es damals ja gar nicht viel zum Kochen und Backen gab. Aber sie konnte zaubern in der Küche und hat das an mich weitergegeben, sonst hätte ich nach der Wende niemals mein eigenes Lokal eröffnen können.
Und ja mit dem Rudi war es nicht einfach, aber zumindest hat er nicht getrunken und mir auch nach der Trennung immer Geld für die Kinder gegeben. Und als er dann krank wurde und wieder bei mir eingezogen ist, hatten wir es richtig gut miteinander bis zu seinem Tod. Jetzt bin ich fast 90 Jahre alt, habe vier phantastische Enkelkinder, zwei Urenkel und mein Lokal gibt es immer noch.“
Wir reden noch eine Weile, trinken Kaffee und ich schaue mir Fotos von den Urenkeln an. Am Ende meines Besuchs spreche ich ein Gebet. Ich bete, wie immer etwas unbeholfen wenn ich es aus dem Bauch heraus machen muss: „Großer Gott. Danke, dass es Waltraud Märker gibt und dass sie bewahrt worden ist und dass es diese Tante gab, bei der sie so viel gelernt hat. Danke für Frau Märkers Familie, für ihre Tatkraft und dass sie heute so liebevoll auf ihre Lebensgeschichte zurückzublicken kann. Auch auf das, was schwierig war. Und danke, dass sie mir davon erzählt hat.“ Ich öffne die Augen. Frau Märker weint ein bisschen.
„Kommen Sie bald mal wieder“, sagt sie, „dann backe ich uns schlesische Apfeltorte.“ Wir lächeln uns an. Im Fenster über uns leuchtet der Stern.

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