Vom Erinnern und Fortgeben
Als Adele ein Kind war, wohnte sie mit ihrer Familie gleich neben der Kirche. Ihr Vater war der Küster der Gemeinde. Er läutete sonntags die Glocken, leerte die Opferstöcke und fegte im Herbst die Blätter vom Kirchhof, im Winter den Schnee. Und jeden Freitagnachmittag spielte er mit seinen Freunden Skat, in einer Stube oben auf dem Kirchturm.
An manchen dieser Freitagnachmittage schlich sich die kleine Adele von der Mutter fort. Sie angelte sich den Hut des Vaters von der Garderobe, lief auf die Straße, hinüber zur Kirche und schlüpfte durch die große Tür hinein. Sie stieg die Treppe zum Kirchturm hoch, betrat die Stube und ging dann von einem der Skatbrüder zum anderen, den offenen Hut des Vaters auffordernd in der Hand. Dabei sagte sie einen Bibelvers, den sie in der Sonntagsschule gelernt hatte: »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.«
Die Männer lachten, kannten dieses kleine Ritual schon und legten Adele etwas in den Hut: Pfennige, auch mal ein Bonbon. Die Bonbons aß sie auf. Aber das Geld steckte sie in den Opferstock am Kircheneingang. Das fiel ihr leicht. Sie wurde jedes Mal ganz fröhlich dabei.
Nun ist Adele fast 70 Jahre alt. Der Vater ist schon lange tot und die Glocken der Kirche läuten automatisch. Aber sie kann sich noch gut erinnern. An den Moment der Aufregung, bevor sie die Tür zur Turmstube öffnete. An den Übermut mit dem sie hinterher die Stufen heruntersprang. An das Gefühl von Heiligkeit, wenn sie die Pfennige in den Opferstock tat.
Noch immer ist sie freigiebig. Sie spendet regelmäßig für Unicef, obwohl ihre Rente schmal ist. Sie verschenkt Kaffee und Nudeln, wenn die Leute von den kleinen Wanderzirkussen bei ihr klingeln. Ihren Enkeln schenkt sie Zeit. Seit einigen Monaten bringt sie ihnen das Skatspielen bei.
Nicht alles, was Adele selber im Laufe ihres Lebens bekommen hat, war so süß wie die Bonbons oder so leicht wie die Pfennige, die die Männer ihr damals in den Hut legten. Es war auch Bitteres dabei und Schweres. Aber weil sie geübt ist im Fortgeben, hat sie auch das Schwere und Bittere nicht für sich behalten. Sie hat es geteilt, mit ihrem Mann, mit ihren Freundinnen und mit Gott. Süß ist es dadurch nicht geworden. Aber leichter schon.